Kapelle

Bild: Michaeliskloster/ Jonas Kretschmann

"Never underestimate the audience"

Hildesheim/Hamburg, 17. Juli 2022

Die Autorin Susanne Niemeyer im Gespräch über die Zukunft der Kirche und warum sie nicht gefallen wollen sollte

Michaeliskloster: Wo wohnt Gott in Hamburg? Wo treffen Sie ihn hin und wieder?
Susanne Niemeyer: Ich glaube, Gott hat keinen festen Wohnsitz. Meistens begegne ich ihr, wenn ich nicht damit rechne: dann hat sie ein Graffitto hinterlassen, spielt als Straßenmusiker oder irrtitiert mich mit einem Plüschhund im Kinderwagen.  

Ein guter Tag in Hamburg. Wie gestalten Sie den?
Ich gehe runter zur Elbe, ein bisschen über das Getümmel an der "Strandperle" hinaus, bohre meine Zehen in den Sand, schaue den großen Schiffen hinterher und schätze mich glücklich.

Im kommenden Jahr kann, nachdem sie coronabedingt zwei Jahre lang verschoben werden musste, endlich unsere Tagung "Quo vadis, Gottesdienst?" stattfinden. Wir wollen dem Gottesdienst der Zukunft auf die Schliche kommen. Was denken Sie, wie feiern wir unseren Glauben in zehn Jahren?
Ich wünsche mir einen Raum ohne Bänke. Ich wünsche mir Popmusik, die plötzlich in einem anderen Kontext heilig wird. Ich wünsche mir Lichterketten und Lebensgeschichten, die teilt, wer möchte. Wir essen zusammen, anstatt an einer Oblate zu knabbern, wir stoßen an auf das Leben. Wir haben keine Angst davor, uns berühren zu lassen. Wir erinnern uns, wie merkwürdig das war, dass da oben mal jemand auf der Kanzel stand und uns Gott erklären wollte. Wir suchen schon lange gemeinsam- indem wir unseren Fragen nachgehen ohne gleich die Antwort zu wissen. Wir schweigen, und es ist nicht peinlich. Worte wie Zielgruppe, Millieuanalyse, Steuerungsgruppen haben wir vergessen. Wir machen einfach, wofür wir selber brennen. Das ist Wunschdenken. Zusammen mit anderen versuche ich, daraus Wirklichkeit werden zu lassen. Es gibt mittlerweile einiger solche Inseln. Und ich glaube, es werden mehr.

Solange 'neues Kirchenlied' die Neunzehnhundertsiebziger mit einschließt, ist es kein Wunder, wenn Kirche für Viele nicht der Ort ist, wo sie ihre Sehnsucht stillen.

Susanne Niemeyer

Im Gottesdienst der Zukunft: Was sollte bleiben, was verblassen?
Nichts muss bleiben. Außer die Sehnsucht. Und für die gibt es unterschiedliche Formen. Sie fühlt sich zu Gregorianik oder Lobpreis hingezogen, für manche leuchtet sie im Vater Unser auf, für andere in einer Berührung. Ich wünsche mir mutiges Loslassen und dann sehen, was kommt, was bleibt.

Wie erklären Sie die Kluft, zwischen den vielen kreativen Formaten, die wir intern im Raum Kirche wahrnehmen und dem drögen Image der Kirche in großen Teilen der Gesellschaft?
Ehrlich? Solange „neues Kirchenlied“ die Neunzehnhundertsiebziger mit einschließt, ist es kein Wunder, wenn Kirche für Viele nicht der Ort ist, wo sie ihre Sehnsucht stillen. Das örtliche Yogastudio wirkt oft einladender als ein Gemeindehaus. Auf einem Filmfestival wurde mal ein Regisseur gefragt, ob er mit seinem Film die Leute nicht überfordere. Seine Antwort könnte oft auch für Kirche gelten: „Never underestimate the audience.“

Wenden sich viele Christen zu Recht von der Kirche ab oder haben sie den Blick für den Glauben, vielleicht auch an Tiefe verloren?
Letzteres weiß ich nicht, ich glaube es aber nicht. Ich denke, dass Menschen nicht mehr aus alter Loyalität bleiben, sondern dorthin gehen, wo sie etwas berührt, erfüllt, bewegt. Und das scheint immer weniger Kirche zu sein. Aber – so what? Muss Kirche denn groß sein? Wenn wir feiern, wofür wir wirklich brennen und nichts aus Gewohnheit festhalten, dann glaube ich daran, dass auch andere wieder ans Feuer kommen werden.

Wenn Sie von Atheisten oder zweifelnden Christen gefragt werden: „Wozu Kirche, Glaube, Gott?“ Was antworten Sie?
Weil es schön ist. Und wenn es nicht schön ist, muss man suchen, bis man findet.

Was kann die Kirche, der Glaube an Gott, was ein Fußballverein, eine Laienschauspielgruppe, eine als sinnstiftend empfundene Arbeit in einem guten Team nicht kann?
Keine Ahnung. Vielleicht sollte sie aufhören, zu vergleichen. Vergleiche machen ja meistens neidisch, ratlos oder unglücklich.

Geben Sie der Kirche eine Chance, aus Ihrer Nische wieder herauszukommen oder bleibt sie ein Special-Interest-Thema?
Ich schätze, sie wird noch mehr zum Special-Interest-Ort. Aber das können ja ziemlich spannende Orte sein.

Ist es nötig, dass die Kirche aufgeregt Zukunftsprozesse startet und kreative Projekte aus dem Boden stampft oder darf sie vielleicht auch selbstbewusst schrumpfen?
Wenn jemand verliebt ist, dann ist es ganz unerträglich, wenn diese Person alles dafür tut, um zu gefallen. Das wird doch sowieso nichts. Liebenswert wirkt, wer auf eine selbstvergessene Art strahlt und gleichzeitig nicht von allen geliebt werden will. Wie strahlt man? Indem man tut und verkörpert, was man liebt.

In den sozialen Medien können wir talarumhangenen Pfarrer:innen folgen, die High Heels tragen und sich mit ihren Menstruationstassen fotografieren, die ihre Community an persönlichen Schicksalsschlägen teilhaben lassen und auf individuelle Gedankenreisen mitnehmen. Ist das einfach nur Selbstdarstellung oder notwendige Vermittlungsarbeit von Kirche? Besteht die Gefahr, dass die Kirche über die Masse an Inhalten in den sozialen Medien sich im Mainstream und damit an Profil verliert?
Manchmal glaube ich, dass von den Kritiker*innen Verbindung mit Verkündigung verwechselt wird. Natürlich ist nicht jede Menstruationstasse Verkündigung, aber sie kann Verbindung schaffen. Wie auch das Müsli am Morgen, das Grübeln über Alltäglichkeiten, der Frust über zu viel Stress, ein neues Tattoo, ein schnell getipptes Gebet und vieles andere das Gefühl von Gemeinschaft vermitteln kann. Nicht allein auf weiter Flur zu sein, sondern zu wissen: Irgendwo 500 Kilometer nördlich oder südlich gibt es andere, die auch von einer anderen Kirche träumen. Natürlich mag ich nicht alle Accounts, finde manches belanglos, selbstverliebt oder moralisch. Aber niemandem muss alles gefallen und niemand muss allen gefallen. Das gilt für Menschen – und für die Kirche sowieso.

Susanne Niemeyer

Susanne Niemeyer arbeitet als Autorin. Sie schreibt zum Beispiel für die Verlage Herder und Chrismon, für den NDR und Deutschlandfunk. In der österreichischen Zeitschrift "Welt der Frauen" lotet sie in ihrer monatlichen Kolumne spirituelle Momente im Alltag aus.

Außerdem schreibt sie mit anderen: Für Seminare und Workshops kann man sie buchen.

Bevor Susanne Niemeyer sich selbständig gemacht hat, war sie Pressereferentin bei der Evangelischen Kirche, danach Redakteurin beim Hamburger Verein Andere Zeiten

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